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Yasmina Reza
DER GOTT DES GEMETZELS


Premiere: 13. Mai 2007, TASCH 2

Fotos link |

Besetzung:
Inszenierung /
Ausstattung -
Dramaturgie -

Inspizienz /
Regieassistenz -
Soufflage -

Ekkehard Dennewitz
Annelene Scherbaum


Juliane Nowak
Iris Merkel
DER GOTT DES GEMETZELS

Darsteller:
Véronique Houillé - Uta Eisold | Michel Houillé - Thomas Streibig | Annette Reille - Franziska Knetsch | Alain Reille - Peter Meyer

Technische Leitung - Fred Bielefeldt | Beleuchtung - Susann Förster | Requisite - Margarita Belger | Maske - Grit Anders | Ton - Ronald Strauß | Garderobe - Elisabeth Müller | Schneiderei - Eva-Constanze Nau

Stück:

Zwei 11-jährige Jungen prügeln sich auf dem Schulhof. Der eine schlägt mit dem Stock zu, der andere verliert zwei Schneidezähne. Unter zivilisierten Leuten, wie es die Eltern sind, bespricht man die Sache gemeinsam, an einem Abend zu viert. Was mit wechselseitiger Freundlichkeit beginnt, nimmt einen furiosen Verlauf, in dem die dünne Haut bürgerlicher Kultiviertheit erst sichtbar wird und dann auch immer wieder platzt. Kindererziehung, Gewalt in der Gesellschaft, schlingernde Paarbeziehungen: ein Stück am Puls unserer Zeit.


Pressestimmen:


Oberhessische Presse 14.05.2007

Infames Gemetzel auf schwarzen Ledersofas

Marburg. In „Der Gott des Gemetzels“ zerbricht das Gerüst bildungsbürgerlicher Normen und Konventionen an zwei ausgeschlagenen Kinderzähnen. von Carsten Beckmann Wer weiß? Nur wenige hundert Meter entfernt vom Theater am Schwanhof fand am Sonntagabend in diversen Ess-, Wohn-, Schlaf- und Arbeitszimmern zwischen Schwanallee und Rudolphsplatz möglicherweise statt, was Yasmina Reza als in höchstem Maß akute Gesellschafts-Satire angelegt hat: ins Absurde abdriftende Problemlösungsversuche für Abweichungen im intellektgesteuerten Dasein des Bildungsbürgertums.

Weil ihre Jungen sich geprügelt haben und der kleine Bruno jetzt zwei neue Schneidezähne braucht, sitzen Annette und Alain Reille bei Michel und Veronique Houillé auf den schwarzen Ledersofas, um Täter-Opfer-Ausgleich zu betreiben. Eine gemeinsame Erklärung muss her, man will die Sache zivilisiert lösen. Man scheint auf gutem Weg zu sein, doch mit jeder Minute, die verrinnt, wird klarer, dass hier vier Menschen viel mehr mit- und gegeneinander auszutragen haben als das Schlichten eines kindlichen Streits. Alain (Peter Meyer) hängt ständig am Telefon, weil er als Anwalt eines Pharmaunternehmens über die Markttauglichkeit eines in die Negativschlagzeilen geratenen Medikaments zu entscheiden hat. Genau dieses Mittel nimmt die Mutter von Michel (Thomas Streibig), der mit Eisenwaren und Klospülungen handelt, sich mit der Mittelmäßigkeit alles menschlichen Daseins abgefunden und zudem den Goldhamster seiner Kinder auf dem Gewissen hat. Seine Frau Véronique (Uta Eisold) hasst Kotzflecken auf Kokoschka-Kunstbänden, schreibt über das Elend in Darfur und hält sich für die heilige Johanna der Kindererziehung. Alains Frau Annette (Franziska Knetsch) schließlich hat als Muttertier mit Geschäftsfrau-Ambitionen die vermeintlich schlechtesten Karten im infamen Vierer-Gemetzel, findet nur über der Spei-Schüssel und im Suff Erlösung und entdeckt beim spontanen Ertränken des Handys von Alain in der Blumenvase emanzipatorische Gefühle.

Häufig und laut lachte das Premierenpublikum am Sonntagabend über die ätzenden Dialoge der beiden Paare, die in selbstzerstörerischer Atemlosigkeit und auf der Suche nach immer neuen Allianzen immer weiter abdrifteten vom ursprünglichen Ziel ihres Zusammentreffens. Das Erfolgsrezept lautet hier Katharsis, denn wie absurd das Gesehene auch anmuten mag – im Bereich des Vorstellbaren liegt die Qualität der Auseinandersetzung zwischen den Houillés und Reilles allemal. Um es deutlicher zu sagen: Wer hier lacht, hat sich selbst ertappt. Yasmina Rezas neues Stück in der Inszenierung von Ekkehard Dennewitz ist unbedingt sehenswertes Gegenwartstheater – punktgenau auf die Bühne gebracht und mit Knetsch, Eisold, Meyer und Streibig ideal besetzt.


Marburger Neue Zeitung 16.5.2007

Ehepaare zeigen ihr wahres Gesicht

Landestheater präsentiert „Gott des Gemetzels“

Marburg (sol). Ein gutbürgerliches Wohnzimmer mit Ledersofas, einem Strauß Tulpen und Kunstbänden auf dem Couchtisch: In dieser Szenerie spielt sich die Handlung von Yasmina Rezas „Der Gott des Gemetzels“ ab, das seit vergangenem Sonntag auf dem Spielplan des Hessischen Landestheaters Marburg steht.

Rhytmisches Klatschen und lang anhaltender Beifall belohnten die Darsteller beim Schlussapplaus nach der erfolgreichen Premiere von „Der Gott des Gemetzels“ im Theater Am Schwanhof. Vor fast ausverkauftem Haus erlebten die Zuschauer einen Blick hinter die Fassade der feinen Bürgerschicht, bei der nicht immer alles so gesittet zugeht wie es scheint. Zwei Ehepaare formulieren eine Stellungnahme: Ihre beiden Söhne haben sich geprügelt, dabei hat einer seine Schneidezähne verloren. Auf vernünftige und pädagogische Art und Weise wollen die beiden Elternpaare Véronique Houillé (Uta Eisold) und Michel Houillé (Thomas Streibig), Anette Reille (Franziska Knetsch) und Alain Reille (Peter Meyer) mit der Situation umgehen, denn „es gibt ja noch die Kunst des gepflegten Miteinanders“. Aber die Unterschiede zwischen den beiden Paaren liegen nicht nur auf der optischen Ebene (Kostüm und Anzug bei den Reilles, Pullunder und Strickpulle bei den Houillés). Nach und nach eskaliert das gesittete und betont höfliche Gespräch bei Kaffee und Kuchen, verbale Gefechte und aggressive Vorwürfe nehmen zu und die Beteiligten offenbaren ihr wahres Gesicht. Die französische Theaterautorin Yasmina Reza hat mit ihrem jüngsten Stück „Der Gott des Gemetzels“, das im Dezember 2006 in Zürich uraufgeführt wurde, eine unterhaltsame und schlagfertige Gesellschafts- und Beziehungssatire geschaffen, die zwischen Drama und Komödie balanciert. „Le dieu du Carnage“, wie das Stück im Original heißt, besticht auch in seiner deutschen Übersetzung von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel durch spritzige Dialoge und Wortwitz. Intendant Ekkehard Dennewitz hat das Stück für die Marburger Bühne inszeniert und mit den vier Darstellern ein wahrlich unterhaltsames Theatervergnügen geschaffen. Mal kämpft Ehepaar gegen Ehepaar, mal verbünden sich die Männer gegen die Frauen oder die Partner beschimpfen sich gegenseitig, ständig klingeln Handy oder Telefon. Mit Energie, Dynamik und Selbstironie schlüpfen Eisold, Streibig, Knetsch und Meyer in die vier Charaktere die im Verlauf des 75-minütigen Kammerstücks „aus der Rolle fallen“.


Giessener Allgemeine

Die Kunst des zivilisierten Umgangs

Doppelpremiere in Marburg: »Eine Bank in der Sonne« und »Der Gott des Gemetzels«

Es sind die kleinen Dinge des Lebens, die im Einerlei des Alltags ein wenig Freude bereiten. Für die beiden betagten Herren Burt und Harold ist es eben »Eine Bank in der Sonne«, auf der sie sich jeden Morgen im Garten der Seniorenresidenz mit dem lieblichen Namen »Valley View Gardens« treffen, um die mehr oder weniger unwichtigen Ereignisse des Tages zu verhandeln, aber auch um Rückschau zu halten. Eine Zweckgemeinschaft à la »Sonny Boys«, bei der die Zwei tapfer und höchst komisch gegen die Gebrechlichkeiten und Marotten des Alters kämpfen – bis die gepflegte Adrienne, eine blond gefärbte Hollywood-Diva aus dem Bilderbuch, das Gleichgewicht der beiden Männer aus der Balance bringt. »Drei auf einer Bank bringt Unglück«, findet Knurrhahn Burt.

Es ist eine unspektakuläre, bezaubernde Boulevardkomödie des Kanadiers Ron Clark, die das Hessische Landestheater Marburg da kurzfristig am Samstag in ihren Spielplan aufgenommen hat – das ideale Stück für zwei Stunden unbeschwerte Unterhaltung, die die drei Protagonisten in der Regie von Manfred Gorr garantieren. Quasi eine Art Abschiedsgeschenk für den 62-jährigen Peter Radestock, der am Ende dieser Spielzeit seine feste Position als Oberspielleiter aufgeben wird, um freilich dem Marburger Theater als freier Regisseur und Darsteller verbunden zu bleiben. Als schrulliger Burt zieht er hier noch einmal dezent alle Register seiner komödiantischen Schauspielkunst, die gepaart ist mit der Gelassenheit des Alters, und sorgt so für herrlich selbstironische Momente.

Jürgen Helmut Keuchel darf als schwerfälliger Harold nicht nur mögliche Arten von Gehhilfen ausprobieren, als eitler Gockel offenbart er die unfreiwillig komischen Züge eines versetzten Liebhabers. Christine Reinhardt – im wirklichen Leben die angetraute Ehefrau von Peter Radestock – verursacht als elegante Adrienne diesen harmlosen Sturm im Wasserglas, bringt sie doch noch einmal Schwung in den langweiligen Tagesablauf der Senioren, denen jede Morgen eine sanfte Stimme süßlich per Lautsprecher wünscht: »Have a nice day!«

Nun, einen schönen Tag haben die zwei Ehepaare in Yasmina Rezas jüngstem Erfolgsstück »Der Gott des Gemetzels« wirklich nicht, gilt es hier doch, die peinliche Situation der folgenschweren Prügelei ihrer beiden Jungs zu bewältigen. Intendant Ekkehard Dennewitz, der auch die Regie führt, reagierte schnell, um sich nach Bochum als zweites Theater in Deutschland die Aufführungsrechte der brillanten Dramatikerin aus Frankreich zu sichern. Und nach der Premiere am Sonntag im Theater am Schwanhof ist klar: Das geschliffene Konversationsstück enttäuscht die Erwartungen keineswegs und hat das Zeug zum Renner der Saison.

Sie reden sich um Kopf und Kragen, diese beiden unterschiedlichen Elternpaare, die eigentlich zusammengekommen waren, um die Kunst des zivilisierten Umgangs miteinander zu pflegen. Denkste! Da entgleisen im Laufe des verstörten Gesprächs immer mehr die verbalen Statements und äußeren Gesichtszüge. Was harmlos beginnt, endet in einem handfesten Wortgefecht, legt die Autorin doch wieder einmal gnadenlos die Brüchigkeit und Verlogenheit der Gesellschaft offen, die hinter ihrer bürgerlichen Fassade längst die Achtung voreinander verloren hat.

Da nervt der arrogante Anwalt von Peter Meyer solange mit seinen störenden Handy-Telefonaten, bis die Galle spuckende Ehefrau – beherzt verkörpert von Franziska Knetsch – in einem Befreiungsschlag das verhasste Gerät in einer Blumenvase versenkt. Die um eine Lösung ringende, besorgte Mutter der Uta Eisold verliert mit zunehmendem Alkoholkonsum gänzlich die Contenance und verpasst dem eigenen Gatten eine saftige Ohrfeige. Thomas Streibig kehrt mit zerzauster Perücke den cholerischen Familienvater heraus, der ohne jegliches Mitgefühl den Hamster seiner kleinen Tochter an die frische Luft befördert.

Bei all den Ausfälligkeiten – immer wieder durchsetzt von Momenten des peinlichen Schweigens – gerät natürlich das eigentliche Problem vollkommen in den Hintergrund. Was macht das schon, wenn zwei Schuljungs sich bis zum Verlust der Schneidezähne prügeln, können doch selbst ihre Erziehungsberechtigten nicht einmal anständig miteinander umgehen.

Marion Schwarzmann

Marburger Forum

"Der Gott des Gemetzels" wurde 2006 in Zürich uraufgeführt. Das Stück ist der dritte große Erfolg Yasmina Rezas, nach "Kunst" (1994) und "Drei Mal Leben" (2000). Die in Paris lebende Schriftstellerin und Schauspielerin ist die zur Zeit meistgespielte zeitgenössische Theaterautorin überhaupt. Wer die gestrige Aufführung gesehen hat, kann sich vorstellen, warum das so ist: Dialoge und Handlungsführung haben etwas Schwebend-Spielerisches, das niemals von allzu direkten Ausbrüchen, sei es in Tragik oder Klamauk, aufgehoben wird. Der Sprachwitz, der auch in der Übersetzung zur Geltung kommt, verbindet sich mit Ausblicken in die Abgründe des Lebens, und beides geht eine Synthese ein, in der Komik und Ernst auf parallele Weise existieren. Solche Parallelität aber gefällt uns heute. Wir können es nicht mehr schätzen, wenn das eine nur zum Mittel des anderen wird - daraus resultierten die eingleisigen theatralen Weltentwürfe einer gerade vergangenen Epoche, deren Drastik und Dramatik (man mag das bedauern) uns fremd geworden sind.

Reza setzt durchaus auf Bewährtes. Zwei Ehepaare treffen sich, um, in zivilisierter Form, über einen kindlichen Gewaltakt zu sprechen; der Sohn des einen hat dem des anderen mit einem Stock zwei Schneidezähne lädiert. Im Grunde ist der Verlauf der Unterhaltung programmiert. Es wird sich nur zu schnell herausstellen, dass die anfängliche Toleranz und das gegenseitige Verständnis bloß Fassade sind. Die Aggressionen, des einen Paares gegen das andere, aber auch der Paare untereinander, brechen schnell genug auf, und es wird deutlich, dass die Gewalt der Kinder die Fortsetzung derjenigen der Erwachsenenwelt ist. Man kennt solche Entlarvungsstücke, die allesamt vom Gesetz des ausbrechenden und sich steigernden Chaos regiert werden, das schließlich in eine Endphase der Erschöpfung einmündet - Beispiele sind etwa "Wer hat Angst vor Virginia Woolf" oder neuerdings auch noch "Das Fest". Die Handlung spiegelt, was den jeweiligen Autoren keineswegs bewusst sein muss, die Riten archaischer Kulte wider, die noch lange untergründig in Kraft waren und die psychischen und sozialen Kommunikationsformen lenkten. In der Gegenwart jedoch gelten ihre Regeln: die Spannungssteigerung bis zu einem Höhepunkt und die dadurch mögliche Umwendung, das Erlahmen der destruktiven Kräfte, nicht mehr. Deswegen ermüden uns Stücke, die ihnen noch ungebrochen folgen. Yasmina Reza aber variiert das überkommene Schema.

Ihre Protagonisten deuten Extreme nur an, spielen aber den drohenden Exzess nicht wirklich aus. Eine Inszenierung, die das nicht beachtet, sondern, um des vorgeblichen Effekts willen, auf Realismus setzt, schlüge fehl. Dennewitz begeht diesen Fehler nicht. Er schafft eine Spielatmosphäre, die nichts unterschlägt oder verharmlost, aber dennoch den Reiz des Scheins, der Bühne, wahrt. Der Gewaltausbruch wird, durch den Einsatz des Lichts und die Verlangsamung der Schauspielerbewegungen, ins Irreale verschoben - und gerade so bleibt er latent bis zur Schlussszene gegenwärtig. Die Kläglichkeit der dargestellten Charaktere, der untergründige Hass der Ehepartner aufeinander, die Verachtung, die sie dem Lebensentwurf des jeweils anderen entgegenbringen, treten offen zutage; trotzdem jedoch brechen diese vier Menschen nicht auseinander. Sie umschiffen die schlimmsten Gefahrenzonen. Natürlich will uns Reza damit auch sagen, was die Oberfläche der gesellschaftlichen Konvention, die wiederherzustellen man sich bemüht, eigentlich verbirgt. Aber dramaturgisch bedeutet das, das Gesetz der Maximierung und, nach einem Stau, schließlichen Explosion der energetischen Kräfte sei aufgehoben. Yasmina Reza stiftet keine neuen dramatischen Formen, aber sie zeigt uns, wie die alten uns noch gerade dann unterhalten können, wenn ihre Geltung eingeschränkt wird.

Der gestrige Abend war ein Erfolg, wie auch der Schlussapplaus des Publikums zeigte, weil Regie und Schauspieler offensichtlich hervorragende Teamarbeit leisteten. Uta Eisold gab die alkoholgefährdete, in Illusionen von Weltverbesserung lebende Véronique ohne jede Überzeichnung und brachte eben deswegen die Fragilität dieser Figur großartig zum Ausdruck. Franziska Knetsch spielte nicht nur die Übelkeit, sondern, schwierig genug, auch den leichten bis mittleren Rausch Annette Reille's völlig überzeugend und ohne vulgären Anklang. Peter Meyer stellte den rücksichtslosen, ewig telefonierenden Anwalt, der sich für das gesundheitsgefährdende Medikament eines Pharmakonzerns einsetzt, mit seinem immer wieder durchbrechenden Machogehabe genauso gekonnt dar, wie Thomas Streibig den scheinbar weichen, tatsächlich jedoch krud egoistischen, nicht einmal desillusionierten, sondern geradezu jenseits aller - positiven - Wertungen lebenden zynischen Menschen, der eigentlich sehenden Auges mitten im Abgrund einer konventionell-erbarmungslosen Welt existiert.

Woraus denn nur, schaut man auf das doch eher erbarmungswürdige Charakterbild solcher Typen, resultiert der unleugbare Witz der Aufführung? Das sich immer wieder einstellende Lachen der Zuschauer hat weder etwas Befreiendes, noch gar Hämisches, es wird nicht von den tradierten Entlarvungsstrategien produziert, wohl aber von der Situationskomik: Es ist merkwürdig genug, dass sich Witz und Abgründigkeit so verbinden können, dass aus ihrer Parallelität Bilder unseres nachmodernen Daseins entspringen. Wer einen leichten und doch interessanten Theaterabend erleben möchte, mit der großen Chance, sich gleichsam ohne böse Hintergedanken über sich selbst zu amüsieren, sollte sich Yasmina Rezas "Der Gott des Gemetzels" in der Inszenierung von Ekkehard Dennewitz ansehen.

Max Lorenzen

Marburgnews

Subtile Gewalt: Der Gott des Gemetzels

Marburg * (fjh)

Offene und versteckte Gewalt thematisiert "Der Gott des Gemetzels". Das Theaterstück von Yasmina Reza feierte am Sonntag (13. Mai) im Theater am Schwanhof (TaSch 1) Premiere. Intendant Ekkehard Dennewitz hatte das 2006 in Zürich uraufgeführte Stück für das Hessische Landestheater inszeniert. Veronique und Alain Houillé suchen Annette und Michel Reille in ihrem Haus auf. Die beiden Ehepaare wollen eine Schlägerei besprechen, bei der der elfjährige Ferdinand Houillé seinem gleichaltrigen Schulkameraden Bruno Reille mit einer Stange zwei Zähne ausgeschlagen hat. Höflich und kultiviert beraten die vier, was wohl pädagogisch zu unternehmen sei. Dabei legen beide Paare viel Wert auf ihr zivilisiertes Verhalten. Annette Reille (Franziska Knetsch) will nur, dass die beiden Jungen miteinander reden und sich versöhnen. Eine Entschuldigung des "Täters" bei ihrem Bruno wünscht sie sich natürlich auch. Ihr Ehemann Michel (Thomas Streibig) begründet das Gespräch gegenüber den Gästen mit der Aufgeklärtheit der Reilles: "Wir sind so naiv, an die zivilisierende Kraft der Kultur zu glauben." Beide Paare sind tolerante und kunstbeflissene Menschen. Die Wohnung der Familie Reille ist voller Bilder. Auf dem Tisch liegen wertvolle Kunst-Kataloge. Annette arbeitet als Schriftstellerin. Ihr neuestes Buch behandelt den Bürgerkrieg in der südsudanesischen Provinz Darfur. Alain Houillé (Peter Meyer) ist Rechtsanwalt. Immer wieder klinkt er sich aus dem Gespräch über die beiden Jungs aus, um per Handy mit Managern einer Pharma-Firma zu telefonieren. Als deren Anwalt versucht er, schwere Nebenwirkungen eines Medikaments vor der Öffentlichkeit zu verheimlichen: "Geben Sie nichts zu!" Später ruft auch Michels Mutter an. Sie fragt ihren Sohn, ob sie eben dieses Medikament nehmen soll. Er verbietet es ihr vehement. Michel greift Alain wegen seiner Vertuschungsversuche offen an. Veronique (Uta Eisold) wiederum kritisiert Michel, weil er den Hamster seiner neunjährigen Tochter auf der Straße ausgesetzt hat. Allmählich kippt die zunächst freundliche Gesprächsatmosphäre um. Ferdinands Eltern beschweren sich nun, Bruno habe ihren Sohn als "Petze" beschimpft und nicht bei seiner bande mitmachen lassen. Nicht Ferdinand sei also der Täter, sondern Bruno. Ihr Spross hingegen sei in Wahrheit das Opfer. Mit witzigen Gags und unerwarteten Wendungen führt Yasmina Reza das Gespräch der beiden Ehepaare immer tiefer in Konflikte hinein. Mal streiten die beiden Paare gegeneinander, mal verbrüdern sich die Männer gegen die Frauen oder die Frauen gegen die Männer. Veronique kotzt Annettes teuren Bildband voll. Danach greifen die Männer zum Rum. Mit feinem Gespür deckt die Autorin dabei die subtile Gewalt auf, die in den sogenannten "zivilisierten" westlichen Gesellschaften herrscht. Dagegen setzt sie Kriege und rohe Brutalität in Afrika, über die sich die "zivilisierten" Menschen voller Abscheu empören. Alain amüsiert sich über Annettes gefühlsselige Parteinahme für die Menschen in Darfur. Brutal berichtet er von einer Reise in den Kongo. Er beschreibt, wie Kindersoldaten mit Macheten, Kalaschnikows und Raketenwerfern auf andere Menschen losgehen. Sein Fazit lautet: "Ich glaube an den Gott des Gemetzels." Das Gespräch wird immer grotesker. Schließlich entpuppt sich das "kultivierte" Verhalten der beiden Paare als subtile Gewalt. Die Männer bewundern John Wayne und Ivanhoe, während sie Hausarbeit und Erziehung den Frauen überlassen. Am Ende werden die "kulturbeflissenen" Kontrahenten sogar handgreiflich. Dennewitz ist es mit seiner Inszenierung gelungen, Rezas feinsinnige Kulturkritik sichtbar zu machen, ohne dem Stück seinen Schwung und den Witz zu nehmen. Banales Alltagsgeschehen lässt die meistgespielte lebende Bühnenautorin der Welt in ihrem neuesten Stück allmählich in absurde Szenen und schließlich in offene Gewalt umkippen. Alle vier Darsteller haben ihre Rollen sehr gut ausgefüllt. Etwas heraus stach Uta Eisold, während Peter Meyers Leistung geringfügig hinter die hohe Qualität der anderen zurückfiel. Den langanhaltenden rhythmischen Applaus des Premieren-Publikums hatten sich am Ende der 75-minütigen Aufführung aber alle Beteiligten redlich verdient. Ironisch verabschiedeten sich vor dem TaSch zwei Zuschauerinnen hinterher voneinander mit der Bemerkung, sie würden das Gesehene nun daheim noch einmal nachspielen.



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